Die unvollkommene Geschichte – oder von der Leselust am wahren Leben
Learning by doing. Um den Teilnehmern in meinem Seminar zum Thema „Storytelling im Online Marketing“ die Merkmale erfolgreichen Storytellings praxisnah zu erklären, nehme ich sie mit auf eine Reise durch die Welt der Blogstories. Hierfür verwende ich die „nackten“ Texte dreier ausgewählter Blogs. Gleiche Länge, gleiche Schriftart und -größe. Nur Text. Die Aufgabe: Lesen und entscheiden, ob es sich um einen privaten oder kommerziellen Blogpost handelt. Die Trefferquote bei zwei der ausgewählten Blogtexte: 100 %. Die Trefferquote beim verbleibenden Blogtext: 0 Prozent.
Blog 1 + 2 ganz klar: kommerziell
Schon während die Teilnehmer noch lesen, kann ich sie spüren: die Entscheidung. Ganz klar, dieser Text hat einen kommerziellen Beweggrund: verkaufen. Die Signale dafür sind eindeutig:
- mehr als 30 Mal erscheint der Name des Unternehmens
- verpackt in eine Story geht es nur um: das Unternehmen
Deshalb habe ich diese Beispiele gewählt. Nicht-so-super- oder Negativbeispiele, da sie nur aus der Sicht des gewinnmaximierenden Unternehmens kommunizieren, ohne die Bedürfnisse der Leser, Verbraucher zu beachten. Ganz old school: ich, ich, ich. Nicht: du, du, du.
Die Stories an sich wären dabei gar nicht so schlecht. Nur: Es ist den Erzählern nicht gelungen
- Emotionen zu wecken
- Bedürfnisse zu wecken
Der Grund: Der Leser wird nicht mit in die Story einbezogen. Es gibt niemanden, mit dem er sich identifizieren kann. Es geht nicht primär um einen Helden oder ein Vorbild, mit dem man mitfiebern, mitleiden oder mit dem man sich einfach freuen kann. Sprache und der Fokus darauf, wie toll das Unternehmen ist, schaffen ungewollt eine Distanz zwischen Story und Leser. Schade eigentlich.
Blog 3 ganz klar: privat
Und dann der dritte Text im Bunde. „Das ist privat“, ohne Zweifel. Eine Frau erzählt von einem Besuch beim Arzt. Und ihrer Demütigung: ihre Fußverletzung wurde gleich in Verbindung mit ihrem Übergewicht gebracht. Wie immer. BOOOOM. Frei von der Leber weg, plaudert die Dame aus dem Nähkästchen. Und erreicht damit tausende von Frauen, denen es ähnlich ergeht. Die Sprache: einfach und verständlich. Die Tonalität: Best-Friends-Talk. Und am Schluss: Beste-Freundin-Tipp. Alles richtig gemacht, um
- Aufmerksamkeit zu erregen
- eine Identifizierung möglich zu machen
- ein Thema zu treffen, dass die Zielgruppe wirklich interessiert
- einen Mehrwert zu liefern
Mehr „authentisch“ geht nicht. Bilderbuch-Storytelling. Klasse Story, keine offensichtliche Verkaufsabsicht. Und dennoch: ein 100prozentig kommerzieller Blog. Clever gemacht, mit hervorragenden Insights und Testimonials wie du und ich. Das Ergebnis: knapp 20 000 Follower. Mitten aus dem Leben. Hier werden betroffene verstanden, finden Rat, lachen und weinen, leiden und freuen sich miteinander. Erst ganz am Ende einen Link zum Shop. Großartig gemacht. Für die Zielgruppe. Vordergründig jedenfalls.
Machen Sie den Putzfrauentest
Ob Ihre Story ebenso gelungen ist, können Sie ganz einfach herausfinden: Drucken Sie den Text ohne aufwändige Formatierung und ohne Bilder auf ein weißes Blatt Papier. Lesen Sie den Text, nachdem Sie eine Nacht darüber geschlafen haben, aus der Sicht Ihrer Zielgruppe. Besser: Lassen Sie den Text von einem Freund/in oder Kollegen/in lesen, der/die Zielgruppe sein könnte. Sagen Sie nicht, dass dieser Text aus Ihrer Feder stammt. Fragen Sie nur, ob der Text
- glaubhaft
- verständlich
- authentisch
geschrieben wurde. Und ob er
- berührt
- begeistert
- zum Lachen bringt
- ins Schwarze trifft
- kalt lässt.
In Werbeagenturen nennt man Tests dieser Art den „Putzfrauentest“. Zu später Stunde, wenn sich die bahnbrechenden Ideen der Kreativen irgendwie völlig verlaufen haben, wird das nun eintreffende Reinigungspersonal dazu befragt. Theoretisch. Praktisch werden neue Werbekonzepte oder -ideen Personen präsentiert, die mit diesem Thema oder Produkt nichts am Hut haben, wie die Putzfrauen. Der Grund: Oftmals steckt man in der Entwicklungsphase fest: Nichts geht mehr. Sackgasse!
Um dort wieder herauszukommen, kann der freie, ungetrübte Blick von außen helfen. Durch diesen Perspektivenwechsel kommen Dinge, Fehler, Unregelmäßigkeiten oder neue Inspirationen ans Licht, die man einfach nicht mehr sehen kann. Diesen Freien-Blick-Vorteil gilt es zu nutzen: Denn oftmals ist es nur eine Kleinigkeit, ein Minifunke, der überspringen, und in unserem Fall die Story wertvoll machen kann – für den Leser. Für den machen wir das ja schließlich.
Sabine Saldaña Bravo
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